Sonntag Nr. 37, 15.9.94
Die Geschichte einer Katastrophe
Jahrhundertelang haben Hutu (85%) und Tutsi (15%) in Ruanda zusammengelebt
als zwei Segmente der gleichen Nation und einer gemeinsamen Sprache. Erst die
Kolonialmächte haben die beiden Gruppen gegeneinander ausgespielt und die
hochgewachsenen, hellen und feingliedrigen Tutsi als Herrscher über die
plumperen Hutu-Bauern eingesetzt. Doch die besser ausgebildeten Tutsi merkten
zuerst, dass Ende der fünfziger Jahre die politische Unabhängigkeit zum
Greifen nahe war. 1959 kam der Umschwung: Staat (Belgien) und katholische
Kirche (unter Erzbischof Perraudin) verliessen sich nun auf die Hutu,
die in den folgenden Jahren 20000 Tutsi ermordeten, so dass weitere
150000 Tutsi nach Uganda flohen. Nach der Unabhängigkeit 1962 ging die
gesamte politische Macht an die Hutu über, wogegen die Tutsi im Handel und
in den freien Berufen führend blieben. 1973 wurde der erste
(demokratisch gewählte) Hutu-Präsident, Gregorie Kayibanda, von einem
Hutu-General, Juvenal Habyarymana, gestürzt, der dann 1975 das
Einparteien-System einführte. Die ersten Jahre seiner Regierung waren
wirtschaftlich und sozial von Erfolg gekrönt: Ruanda wurde oder blieb das
Lieblingskind der Ersten Welt; auch ein Schwerpunktland der Schweiz. Es
zeichnete sich aus durch eine gute Infrastruktur, ein exzellentes
Strassennetz, effiziente Telekommunikation, gute Schulen und Spitäler,
Kooperativen und Darlehenskassen, eine blühende Wirtschaft (mit Kaffee als
Hauptprodukt); kurz ein Staat, der funktionierte, ganz im Gegensatz zum
westlichen Nachbar Zaire, wo schon längst nichts mehr ging. Doch die
Regierung wurde zusehends autoritärer und korrupter, ganz ähnlich wie in
Kenia.
In der Zwischenzeit waren die Tutsi-FIüchtlinge in Uganda vom damaligen Präsidenten
Milton Obote ausgewiesen worden. Als Folge davon liessen sie sich in die
Nationale Widerstandsarmee (NRA) von Yoweri Museveni eingliedern, der mit
seinen Truppen 1986 in Kampala die Macht übernahm. Die jungen Tutsi, nun
englisch sprechend, wurden aber auch jetzt noch nicht voll akzeptiert. So
blieb nur ein Ausweg: der Guerilla-Krieg. Exil-Tutsi und dissidente Politiker
in Ruanda vereinigten sich in der Ruandesischen Volksfront (FPR) und drangen
1990 in Nord-Ruanda ein. Dieser Krieg dauerte bis zum August 1993 und machte
900000 Menschen heimatlos. Habaryamana erweiterte seine Armee von 5000 auf
35000 und hob eine Bürgermiliz aus, die berüchtigte lnterahamwe, wobei
Frankreich, Àgypten und Südafrika die Waffen lieferten. Im August 1993
gelang es der OAU, ein Friedensabkommen zwischen Regierung und FPR
auszuhandeln mit der Absicht, politische Opposition und Guerillakräfte im
Staat zu integrieren. Die Regierung fühlte sich überrundet. Sie, legte dem
Abkommen alle nur möglichen Hindernisse in den Weg. Nun geriet der Präsident
von drei Seiten unter Beschuss: von den internationalen Vermittlern, der
Opposition und von seinen eigenen Parteileuten, denen er nicht extrem und
hart genug war. Gerade sie brachten ihn um, indem sie mit einer französischen
Rakete sein Flugzeug beim Anflug auf Kigali am 6. April 1994 zum Absturz
brachten; es wurde der Startschuss zur Eliminierung der gesamten Opposition.
Genau vorbereitete Todeslisten ermöglichten zum ersten die Ermordung der gemässigten
Hutu-Politiker, später die von Richtern, Bürgerrechtlern, Intellektuellen,
Priestern und Nonnen, Journalisten und Handelsleuten. Erst dann begann die
Jagd auf die gewöhnlichen Tutsi, ein Genözid, bei dem Gendarmerie,
Ortsvorsteher und Bürgermiliz Hand in Hand arbeiteten und durch die
halbstaatliche Radio Télévision Libre Mile Collines auf satanische Weise
angefeuert wurden. Die «Endlösung» war in Sicht! Zum erstenmal in der
Geschichte wurden Kirchen Und Klöster als letzter Zufluchtsort nicht mehr
respektiert und darin Kinder, Frauen und Männer umgebracht. Die westliche
Welt schaute zu...
Für uns Missionare aber stellt sich die traurige Frage, was im Prozess der
Evangelisierung schiefgegangen ist, dass Menschen, die sich zu 90% zum
Christentum bekennen und denen seit vier Generationen das Evangelium verkündet
wird, zu solchen Greueln fähig sind, und was wir nun tun müssten, um
anderswo ähnliche Vorkommnisse zu verhindern.
P. Peter (Hildebrand) Meienberg OSB
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