Bericht im Sonntag Nr. 37, 15. September 1994, von Peter Meienberg
«Komm
zu uns nach Goma», sagte mir eine Stimme in der Nacht vom 25. auf den 26.
Juli (Apostelgeschichte 9,16). Am folgenden Abend nahm sich Beat Nobs von der
Schweizer Botschaft meines Anliegens an, ein grosszügiger Prior liess mich
ziehen, und eine Nacht später sass ich in einer
Iluschin-76-Transport-maschine mit ‘ukrainischer Besatzung und 35 Tonnen
Nahrungsmitteln, Baumaterialien und einem Auto an Bord, UN Flight No 903
von Nairobi nach Goma.
Noch ist es Nacht,als wir landen, recht kühl und windig, denn
Goma, am
Kivu-See, liegt 1500 m
über Meer, im Ostafrikanischen Graben.
Die Stadt von 150000 zairischen
Einwohnern ist von 200000
Hutu aus Ruanda überschwemmt.
Sie wälzten sich wie ein
reissender Strom über die Grenze.
Morgens
sieben Uhr. Tausende von Frauen
und Mädchen schleppen Wasser
aus dem See. Mit 20 Liter schweren
Jerricans auf dem Kopf oder
auf dem Rücken kehren sie, stumm und ergeben, in ihre Lager zurück.
Links und rechts an der
Strasse von 80 km Länge haben sich insgesamt 1,2 Millionen
Flüchtlinge niedergelassen: Im Stadtbild
selber fehlen die Bäume; sie sind radikal abgeholzt worden, um den Flüchtlingen
Brennholz zu liefern. An jedem möglichen und unmöglichen Ort haben
sie sich eingenistet - man denkt unwillkür lich an eine
Heuschrecken-Invasion. Viele haben Hausrat mitgebracht...andere kaum eine
Woll decke. Überall das beklemmende Husten von Kindern. «Monsieur,
donnez-moi à manger!»
In
der Prokura der Weissen Väter finde ich ohne weiteres Unterkunft. Das
Gepäck ist rasch eingestellt. Mit einem einheimischen Seminaristen, der
Französisch und Kinyaruanda redet, habe ich mich auf den Weg gemacht. Viele
Leute haben sich ein Tuch vor die Nase gebunden: die Luft ist mit dem Gestank
verwesender Leichen geschwängert. Sie liegen am Rand der Strasse in
Strohmatten. Sie warten auf die Abfuhr. Der Strom von Leuten, der an ihnen
vorüberzieht, hat sich längst an diesen Anblick gewöhnt. Es gibt ja nichts
zu begraben; der vulkanische Boden, Lavagestein, müsste zuerst gesprengt
werden. Aber selbst zum Erde-Schaufeln hätten sie gar nicht mehr die Kraft.
Französische Soldaten auf Lastwagen, Pfadfinder und andere
Hilfsorganisationen mit Pick-ups sammeln die Kadaver, deponieren sie in
Massengräbern, die von Bulldozem eingeebnet werden. Tagesleistung der
Franzosen am 27. Juli: 2890 Leichen. Zwischen dem 20. Juli und 2. August sind
50000 Menschen an Cholera, Ruhr, Malaria und Erschöpfung gestorben.
Land ohne Menschen - Herde ohne Hirten
Ruanda, ein fruchtbares Bergland, indem auf kleinstem Raum 7 Millionen
Menschen zusammen gelebt haben, 300 auf einem Quadratkilometer, ist heute, im
nördlichen Teil, fast menschenleer. Von den 1,1 Millionen Tutsi haben die
HutuMilizen ca. eine halbe Million bestialisch umgebracht; viele andere
sind nach Nord-Tansania geflohen. Aber je mehr die Exil-Tutsi in Uganda,
organisiert in der Front Patriotique Rwandais (FPR), in guerillamässigen
Operationen die militärische Oberhand gewannen, desto überstürzter flohen
die HutuBauern, von der eigenen Regierung gewarnt, dass sie von der FPR
massakriert würden. Im Südwesten des Landes leben noch eineinhalb Millionen
einheimische Hutu und zusätzlich 1,6 Millionen HutuFlüchtlinge, die von
der französischen Armee (Opdration Turquoise) beschützt werden. Was
geschieht, wenn sie abzieht? Die Gefahr besteht, dass dann noch einmal 3
Millionen Hutu nach Zaire (Bukavu) fliehen. Nicht auszudenken!
Auch Bischöfe und einheimische Priester sind geflüchtet: die Missionare
wurden schon vorher von ihren Botschaften aufgefordert, das Land zu verlassen.
In Goma selber befinden sich zirka 30 Priester der Nachbardiözese Ruhengeri.
Im Grossen Seminar sitzen sie die Zeit ab, statt dass sie in den
Flüchtlingslagern ihren Landsleuten in dieser unbeschreiblichen Not
beistehen würden. Dabei sine 60% aller Ruander katholisch. «Es sind zu
viele, als dass man da noch helfen könnte», sagte mir ein Priester.
Kibumba,ein Todeslager
Wir sind auf dem Weg zu einem der grössten Flüchtlingslager
- Kibumba - 34 km nordöstlich von Goma. Ein bleierner
Himmel, die Sonne von der feinen Asche verdeckt, die vom Ausläufer des 3470
m hohen Vulkans Nyiragongo ausgestossen wird. Gruppen von Flüchtlingen
stolpern an uns vorüber. Die halbverwesten Leichen, die offen am Wegrand
liegen, beachten sie kaum mehr - wenn sie nur noch die Kraft haben, das
Lager zu erreichen. Kibumba ist seit zwei Wochen besiedelt und zählt jetzt
ca. 300000 Hutu. Aber noch gibt es weder Wasser noch Nahrung für Flüchtlinge,
obwohl alle grossen Hilfswerke wie Internationales Rotes Kreuz, Médecins
sans Frontières, Caritas Intemationalis, Oxfam, Unicef usw. sich die grösste
Mühe geben und ihre Einsätze von UNHCR koordiniert werden. Das Ausmass der
Not steht in keinem Verhältnis zu den technischen (logistischen) Möglichkeiten.
Seit dem 29. Juli pumpen die Amerikaner aus dem kontaminierten Kivu-See täglich
400 000 Liter gereinigtes Wasser; aber die Lager bräuchten pro Tag 5
Millionen Liter, zwölfmal soviel! Französische Armeefahrzeuge und zivile
Tankwagen besorgen die Verteilung. Nur ein kleiner Bruchteil der Flüchtlinge
profitiert davon. Die Todkranken lechzen nach Wasser, aber auch ich kann kaum
einen einzigen Becher Wasser beschaffen. Priorität haben die Kleinkinder und
jene, die bereits in die Abgrenzung einer medizinischen Station überführt
sind. Überall liegen Kinder mit glasigem Blick. Die Erwachsenen haben nicht
mehr die Kraft, sie auch nur 100 m zum nächsten Notspital zu tragen. Es ist
Sonntag mittag, ein Uhr, Messe im Freien, die einzige im ganzen Lager. Im Nu
drängt sich alles um mich. Stephe, ein jüdischer Reporter des «Boston
Globe», fragt, was ich den Leuten in dieser Situation zu sagen hätte.
«Eine Botschaft der Hoffnung, Ezechiel Kap. 37: Sie sagen: <Unsere
Lebenskraft ist geschwunden, unsere Hoffnung dahin, wir haben keine Zukunft
mehr.> Deshalb richte ihnen meinen Auftrag aus: Gott der Herr lässt euch
sagen: <Ich öffne eure Gräber und hole euch, mein Volk, heraus, und führe
euch heim ins Land Israel. Ich hauche euch meinen Geist ein, damit ihr wieder
leben könnt und bringe euch in euer Land zurück. Dann werdet ihr erkennen,
dass ich der Herr bin. Was ich gesagt habe, das führe ich auch aus, ich, der
Herr.>» «Und was sonst noch?», drängt Stephe. «Die Seligpreisungen
der Bergpredigt, Mt 5,1—11», antworte ich. Noch nie in meinem Leben ist
mir das Wort Gottes aktueller und tröstlicher vorgekommen. Eine junge Frau
mit Megaphon übersetzt mein Swahili ins Kinyaruanda. Junge Leute bilden
spontan einen Chor, und afrikanische Weisen, gläubig und inbrünstig
gesungen, hallen über die Ebene, dieses Meer von Not und Tod. In den Fürbitten
beten die Menschen für ein neues Herz, das die Kraft findet, zu verzeihen.
Nach
der Messe lade ich alle, die sich elend fühlen, ein, das Sakrament der
Krankensalbung zu empfangen. Wiederum drängen sich Scharen von Christen um
mich. Die Todkranken jedoch liegen in ihren Hütten, so dass ich auf allen
vieren in diesen armseligen Behausungen herumkrieche. «Mit dieser heiligen
Salbung und in seinem liebevollen Erbarmen erfülle dich der Herr mit der
Kraft des Heiligen Geistes. Er entreisse dich der Macht der Sünde und
schenke dir Linderung deiner Schmerzen.» Ich hatte nichts anderes bei mir
als eben dieses heiligeÖl, «kein Brot, keineTasche, kein Geld» (Mk 6,8);
aber ich durfte mich als einer der Jünger Christi verstehen, die «viele
Kranke mit Öl salbten und sie heilten» (6,13). Gerne hätte ich die
Sonnenbrille abgenommen, um Aug‘ in Aug‘ zu schauen. So haben sie statt
meiner verweinten Augen nur die Tränen gesehen, die mir über das Gesicht
flossen, während sie selber gar nicht mehr die Kraft besassen, ihr Leid in
Tränen auszudrücken.
Abends fünf Uhr. Zwischen zwei eng aneinandenliegenden Hütten liegt eine
Matte, die ich behutsam zurückschlage. Darunter liegt ein Mädchen, das
schon am Morgen der Cholera erlegen ist. Aber niemand scheint die Kraft zu
haben, den Leichnam an die Strasse zu tragen. Tote begraben - ein Werk
der Barmherzigkeit! Wenig später besteige ich einen Bus, der mich zusammen
mit vielen andern weissen und schwarzen Helfern zurück nach Goma fährt.
Dort wird es wenigstens Trinkwasser (wenn auch keine Dusche!) und auch Nahrung
geben, damit wir morgen mit neuen Kräften antreten. Was aber mit den
Hunderttausenden, die wir in dieser Nacht zurücklassen?
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