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Bericht in der FAZ

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26. April 2000

Durchhungern nach der Odyssee

Noch immer harren Flüchtlinge aus Ruanda in kenianischen Lagern aus
von Thomas Scheen

NAIROBI, 25. April. Laurence Nyirahabimanas ganzer Besitz liegt auf dem Boden des drei mal drei Meter großen Bretterverschlags, den sie ihr Heim nennt: Ein Wasserkanister, drei Metallschüsseln, eine Plastiktüte mit fadenscheinigen Kleidungsstücken, eine schimmelige Matratze. Ihre Füße stecken in verschlissenen, viel zu großen Turnschuhen, sie trägt ein löchriges T-Shirt, und wenn sie mit stockender Stimme ihre Geschichte erzählt, fasst die knöchrige Hand mechanisch nach dem Rosenkranz, der um ihren Hals baumelt.

Die 56 Jahre alte Hutu-Bäuerin aus Ruanda gehört zu den Vergessenen eines der blutigsten Kriege der neunziger Jahre. Als 1994 eine Rebellenarmee in Ruanda einmarschierte und dem Völkermord an den Tutsi ein Ende machte, flohen hunderttausende Hutu aus Angst vor Rache in die Nachbarländer Kongo und Burundi. Darunter Laurence, die mit ansehen musste, wie ihre sechs Kinder und ihr Mann von Tutsi-Soldaten ermordet wurden.

Was folgte, war eine Odyssee, wie sie viele Ruander in Nairobi erzählen können: Flüchtlingslager in Kongo und Burundi, Flüchtlingslager in Tansania, Endstation Kenia. 16 000 Ruander. überwiegend Hutu, leben heute in Kabiria, einem Slum am Rande von Nairobi. Die kenianische Regierung nimmt die Ruander nur dann zur Kenntnis, wenn Wahlen anstehen und ein Lokalpolitiker Tatkraft demonstrieren will. Dann jagt in Kabiria eine Polizei-Razzia die nächste. „Die Menschen sind hier vollkommen rechtlos‘. sagt der Benediktinerpater Peter Meienberg. der sich der Flüchtlinge angenommen hat. Der hagere Schweizer kennt all die Geschichten, die klingen wie aus einem vergangenen Jahrhundert.. Die Massenmorde in Ruanda, die monate-langen Fußmärsche durch den kongolesischen Regenwald, das Elend und die Gewalt in den Flüchtlingslagern. Meienberg weiß von den Verhaftungen der illegal in Kenia Lebenden, die im Gefängnis enden, nur weil sie kein Geld haben. die Polizisten zu bestechen.

Julienne Uwikubire hat einen Traum: einen Marktstand, an dem sie Kartoffeln und Tomaten verkaufen kann. Doch dafür braucht sie Startkapital, eine Arbeitserlaubnis und gute Kontakte. Julienne hat nichts dergleichen. Genau genommen hat die 24 Jahre alte Hutu-Frau nicht einmal‘ genug Geld, um ihren zwei Jahre alten Sohn zu ernähren. 500 kenianische Schilling (umgerechnet 15 Mark) zahlt sie für ihre Unterkunft, durch deren Wandritze der Wind pfeift. Sie arbeitet gelegentlich als Wäscherin, aber mehr als 100 Shilling bringt das monatlich nicht ein. Also bettelt sie wie alle in Kabiria. Auf die Frage, was sie heute gegessen habe, zuckt sie mit den mageren Schultern: einen Becher Uchi, ein Getränk aus Maisbrei, das sättigt, ohne nahrhaft zu sein, und den Bauch aufbläht wie einen Ballon.

„Durchhungern" nennt Meienberg das. Siebzig Familien versorgt er einmal wöchentlich mit den Grundnahrungsmitteln Mais und Mehl. Zudem organisiert und finanziert er den Schulbesuch von sechzig Kindern. Die Benediktiner betreiben in ihrer Pfarrei Fortbildungskurse für Frauen, in denen diese zu Sekretärinnen und Friseurinnen ausgebildet werden. Daimler-Chrysler schickte fünfzehn ausrangierte Computer, die für Meienberg wie ein Geschenk des Himmels waren. Zudem will er ein Haus kauten in dem Hutu-Frauen und Tutsi-Frauen gemeinsam leben und lernen können. „Da haben sie wenigstens ein bisschen Ruhe", sagt Meienberg. Er würde gerne noch mehr tun, aber seine finanziellen Mittel sind beschränkt, weil seine Arbeit auf Spenden angewiesen ist.

Marie-Agnes Nshimiyimana lächelt, wenn sie von ihrem Albtraum erzählt. Als ob die leisen Worte sie schützen könnten, von der Erinnerung überwältigt zu werden. Nur weil damals gerade Schulferien waren und sie bei einer befreundeten Familie Urlaub machte, entging sie dem Massaker, das Soldaten an ihrer Familie verübten. Mit ihrer Gastfamilie floh sie nach Kongo. Sie wurde schwanger von ihrem Adoptivvater und bekam Prügel, weil sie nicht abtreiben wollte. Sie floh ein zweites Mal, und als sie endlich in Nairobi ankam, gebar sie Zwillinge. Erika und Eugenie heißen die Mädchen, sind zwei Jahre alt und chronisch unterernährt. Ihre zwanzig Jahre alte Mutter, die sagt, sie würde gerne Abitur machen und studieren, besitzt nicht einmal eine Matratze, auf die sich die Kinder legen könnten. Marie-Agnes hat versucht, nach Ruanda zurückzukehren. Doch das Haus ihrer Familie wir längst besetzt, ihre Angehörigen spurlos verschwunden, und sie hatte Angst. in Ruanda zu sterben. Also hat sie es irgendwie zurück nach Nairobi geschafft.

Zwar betont die neue Regierung in Kigali, die Flüchtlinge hätten bei ihrer Rückkehr nach Ruanda nichts zu befürchten, Sofern sie sich keines Verbrechens schuldig gemacht hätten. Doch die Hutu in Nairobi schenken dem keinen Glauben. „Dort verschwinden die Menschen einfach", sagt Erneste Sekanabo, ein 22 Jahre alter Hutu aus Butare. Sein Bruder war Mitglied der ruandischen Armee FAR. die am Genozid beteiligt war und vor den Tutsi-Rebellen nach Kongo floh. Über Tansania kehrte der Bruder nach Ruanda zurück, wo er unter ungeklärten Umständen getötet wurde. Erneste behauptet, er wisse nicht, ob sein Bruder einer der „genocidaires" gewesen ist, also jemand, der an den Morden beteiligt war. Was er aber weiß, ist, dass sein Vater für seinen Sohn ins Gefängnis kam und seitdem unauffindbar ist. Erneste geht nicht zrrück nach Ruanda. „Nicht, solange dort kein Frieden herrscht."

Laurence fingert in den Taschen ihres weiten Rocks und fördert ein zerfleddertes Papier zutage. Das Dokument trägt den Stempel des Flüchtlingswerks der Vereinten Nationen UNHCR. Es bescheinigt Laurence, dass sie seit Februar 1999 registriert ist und sich im Mai 2000 wieder in der Dienststelle einfinden soll, damit über ihren endgültigen Status als Flüchtling entschieden wird. Sechzehn Monate banges Warten. Dabei sind ihre Chancen auf Anerkennung verschwindend gering. Die kenianische Regierung argumentiert, die Ruander müssen ihre Anträge in dem Land stellen, das sie als erstes nach ihrer Flucht aus Ruanda betreten haben. Laurence kam über Burundi. Doch in Burundi herrscht Bürgerkrieg. Hutu gegen Tutsi. Laurence sagt, sie wolle am liebsten sterben. „Dann hätte ich endlich Frieden".

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